Nehmt den an, der im Glauben schwach ist, ohne mit ihm über verschiedene Auffassungen zu streiten. (Röm 14,1)
Paulus liegt die Einheit in der Gemeinde am Herzen. Er hat in den vorangegangenen Kapiteln bereits dargelegt, wie die Gemeinde leben soll, um diese Einheit zu wahren. Nun stellt er dabei noch einen anderen Aspekt heraus. Er kennt zur Genüge, dass sich Menschen leicht über gewisse Gewohnheiten streiten und dieser Streit die Einheit zerstören kann. Paulus denkt hier vor allem an Speisevorschriften und das Einhalten bestimmter Tage.
Der eine glaubt, alles essen zu dürfen, der Schwache aber isst kein Fleisch. Wer Fleisch isst, verachte den nicht, der es nicht isst; wer kein Fleisch isst, richte den nicht, der es isst. Denn Gott hat ihn angenommen. Wie kannst du den Diener eines anderen richten? Sein Herr entscheidet, ob er steht oder fällt. Er wird aber stehen; denn der Herr bewirkt, dass er steht. Der eine bevorzugt bestimmte Tage, der andere macht keinen Unterschied zwischen den Tagen. Jeder soll aber von seiner Auffassung überzeugt sein. Wer einen bestimmten Tag bevorzugt, tut es zur Ehre des Herrn. Wer Fleisch isst, tut es zur Ehre des Herrn; denn er dankt Gott dabei. Wer kein Fleisch isst, unterlässt es zur Ehre des Herrn, und auch er dankt Gott. (Röm 14,2-6)
Die Kirche hat in den letzten Jahren die meisten Gebote, die Fasttage und Speisevorschriften betreffen, aufgehoben, und es weitgehend den Gläubigen überlassen, wann sie fasten möchten. Dies entspricht ganz der Sicht des Paulus. Wir sehen aber, wie wichtig solche Vorschriften für andere Religionen sind, das koschere Essen bei den Juden, oder Halal-Fleisch bei den Muslimen. Doch auch im außerreligiösen Bereich erkennen wir heute die Bedeutung von Essensvorschriften bei Menschen, die bewusst vegetarisch oder vegan leben.
Essensvorschriften polarisieren. Sie grenzen diejenigen aus, die nicht bereit sind, danach zu leben. Nach innen hin stiften sie ein Gruppengefühl. Jedoch ist dieses oft mit der Ablehnung derer verbunden, die sich nicht an diese Regeln halten, weil man seine eigenen Überzeugungen als die besseren oder gar allein richtigen ansieht.
Genau das ist es, was Paulus kritisiert. Es kann jeder für sich einen Weg finden, der ihm gut tut und zu dem auch gewisse Essensgewohnheiten zählen. Ein solcher Weg kann auch zur Ehre Gottes gereichen, wenn der einzelne dadurch zu tieferer Spiritualität findet. Wenn aber ein einzelner oder eine Gruppe ihren Weg als einzigen Heilsweg ansieht und sich deswegen über andere erhebt, dann wird es kritisch.
Paulus nennt diejenigen, die Speisevorschriften und besondere Tage beachten, die Schwachen. Sicher ist das eine pointierte Formulierung wie sie Paulus öfter verwendet, um diejenigen, die sich für etwas Besseres halten, es in Wahrheit aber nicht sind, vor den Kopf zu stoßen. Auf der anderen Seite aber gilt es darauf zu achten, dass nicht alles der Beliebigkeit preisgegeben wird. Daher nennt Paulus das gemeinsame Ziel, auf das alle Christen blicken müssen: Jesus Christus. Wer in seiner Nachfolge steht, kann nicht in die Beliebigkeit abdriften, doch auch ein radikaler Formalismus entspricht nicht dem, was Jesus Christus gelebt hat.
Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende. (Röm 14,7-9)
Christus ist der Herr aller Glaubenden. Er ist es auch, der über die Auffassungen jedes einzelnen richten wird. Uns steht es nicht zu, über andere zu richten. Die Gemeinde soll nicht am Streit über Speisevorschriften und dergleichen zerbrechen. Hier gibt es viele Wege. Die Gemeinde muss nur darauf achten, dass keiner das gemeinsame Ziel aus dem Auge verliert, das wäre fatal. Der Maßstab all unseres Tuns muss der Glaube an Jesus Christus sein und wichtig ist auch der letzte Satz des Kapitels: Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.
Wie kannst also du deinen Bruder richten? Und du, wie kannst du deinen Bruder verachten? Wir werden doch alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Denn es heißt in der Schrift: So wahr ich lebe, spricht der Herr, vor mir wird jedes Knie sich beugen und jede Zunge wird Gott preisen. Also wird jeder von uns vor Gott Rechenschaft über sich selbst ablegen. Daher wollen wir uns nicht mehr gegenseitig richten. Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoß zu geben und ihn nicht zu Fall zu bringen.
Auf Jesus, unseren Herrn, gründet sich meine feste Überzeugung, dass an sich nichts unrein ist; unrein ist es nur für den, der es als unrein betrachtet. Wenn wegen einer Speise, die du isst, dein Bruder verwirrt und betrübt wird, dann handelst du nicht mehr nach dem Gebot der Liebe. Richte durch deine Speise nicht den zugrunde, für den Christus gestorben ist. Es darf doch euer wahres Gut nicht der Lästerung preisgegeben werden; denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. Und wer Christus so dient, wird von Gott anerkannt und ist bei den Menschen geachtet.
Lasst uns also nach dem streben, was zum Frieden und zum Aufbau (der Gemeinde) beiträgt. Reiß nicht wegen einer Speise das Werk Gottes nieder! Alle Dinge sind rein; schlecht ist es jedoch, wenn ein Mensch durch sein Essen dem Bruder Anstoß gibt. Es ist nicht gut, Fleisch zu essen oder Wein zu trinken oder sonst etwas zu tun, wenn dein Bruder daran Anstoß nimmt. Die Überzeugung, die du selbst hast, sollst du vor Gott haben. Wohl dem, der sich nicht zu verurteilen braucht bei dem, was er für recht hält. Wer aber Zweifel hat, wenn er etwas isst, der ist gerichtet, weil er nicht aus der Überzeugung des Glaubens handelt. Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde. (Röm 14,10-23)
Wir müssen als die Starken die Schwäche derer tragen, die schwach sind, und dürfen nicht für uns selbst leben. Jeder von uns soll Rücksicht auf den Nächsten nehmen, um Gutes zu tun und (die Gemeinde) aufzubauen. Denn auch Christus hat nicht für sich selbst gelebt; in der Schrift heißt es vielmehr: Die Schmähungen derer, die dich schmähen, haben mich getroffen. Und alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben. (Röm 15,1-4)
Paulus hat im vorangehenden Abschnitt die Gemeinde in Rom dazu ermahnt, dass die Einheit nicht am Streit um Speisevorschriften zerbrechen darf. Die einen essen kein Fleisch, die anderen trinken keinen Alkohol und halten sich deswegen für etwas Besseres. Andere möchten auf diese Gaben Gottes nicht verzichten. Es entstehen Gruppen, die sich gegeneinander abgrenzen. So geht Kirche nicht, sagt Paulus. Maßstab all unseres Tuns muss die Liebe sein.
Für Paulus sind die Schwachen diejenigen, die sich an gewisse Vorschriften klammern. Die Starken aber leben ihren Glauben unabhängig von solchen Formalitäten. Jedoch zeigt sich nach Paulus die Stärke dieser Starken gerade darin, dass sie aus Rücksicht auf die anderen bereit sind, deren Gewohnheiten zu akzeptieren. Alles soll im Blick auf Jesus Christus geschehen. Er, der Gerechte, ließ sich unter die Verbrecher rechnen. Er hat nicht seine Gerechtigkeit mit himmlischer Macht verteidigt, sondern hat das Urteil akzeptiert, das über ihn gesprochen wurde. Durch seine Demut und Hingabe aber hat er für alle das Heil gewirkt.
Die Gerechtigkeit muss sich nicht mit Gewalt verteidigen. Sie gelangt von selbst zum Durchbruch, wenn Menschen geduldig im Glauben an sie alles ertragen, was ihnen widerfährt. Dazu bedarf es wahrer Stärke und um zu dieser Stärke zu finden, hilft uns der Blick auf Jesus Christus und die Worte der Heiligen Schrift.
Das heißt: damit wir nicht verloren gehen, denn mannigfach sind die Kämpfe innen und außen, damit wir, gestärkt und aufgemuntert durch die Heilige Schrift, Geduld an den Tag legen, damit wir in Geduld leben und in der Hoffnung verharren. Denn diese beiden stehen in einem Wechselverhältnis zueinander: die Geduld kommt von der Hoffnung, und die Hoffnung von der Geduld, beide aber leiten ihren Ursprung aus der Heiligen Schrift her. (Johannes Chrysostomus)