Nach diesen Worten ging Jesus mit seinen Jüngern hinaus, auf die andere Seite des Baches Kidron. Dort war ein Garten; in den ging er mit seinen Jüngern hinein. (Joh 18,1)
In den vorangegangenen Kapiteln hat Johannes vom Abschiedsmahl Jesu mit seinen Jüngern berichtet mit dem Zeichen der Fußwaschung. Anschließend hat Jesus noch viel mit den Jüngern geredet. In den langen Abschiedsreden hat er sie auf die Zeit nach seinem Tod vorbereitet. Nun ist seine Stunde gekommen. Es geschieht alles nach Plan. Jesus handelt nicht in Eile. Er hat sich Zeit genommen, um mit seinen Jüngern zu reden. Nun gehen sie über das Kidrontal hinüber Richtung Ölberg zum Garten Getsemani, wo Jesus sich, wie nur Johannes uns überliefert, oft mit seinen Jüngern aufgehalten hat.
Auch Judas, der Verräter, der ihn auslieferte, kannte den Ort, weil Jesus dort oft mit seinen Jüngern zusammengekommen war. Judas holte die Soldaten und die Gerichtsdiener der Hohenpriester und der Pharisäer und sie kamen dorthin mit Fackeln, Laternen und Waffen. Jesus, der alles wusste, was mit ihm geschehen sollte, ging hinaus und fragte sie: Wen sucht ihr? Sie antworteten ihm: Jesus von Nazaret. Er sagte zu ihnen: Ich bin es. Auch Judas, der Verräter, stand bei ihnen. Als er zu ihnen sagte: Ich bin es!, wichen sie zurück und stürzten zu Boden. Er fragte sie noch einmal: Wen sucht ihr? Sie sagten: Jesus von Nazaret. Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Wenn ihr mich sucht, dann lasst diese gehen! So sollte sich das Wort erfüllen, das er gesagt hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast. Simon Petrus aber, der ein Schwert bei sich hatte, zog es, schlug nach dem Diener des Hohenpriesters und hieb ihm das rechte Ohr ab; der Diener hieß Malchus. Da sagte Jesus zu Petrus: Steck das Schwert in die Scheide! Der Kelch, den mir der Vater gegeben hat - soll ich ihn nicht trinken? (Joh 18,2-11)
Judas hat Jesus verraten, indem er den Hohenpriestern den abgelegenen Ort genannt hat, wohin Jesus mit seinen Jüngern gegangen ist. Judas führt einen Trupp von Wächtern an, die Jesus gefangen nehmen sollen. Wenn man bedenkt, dass Jesus ein friedlicher Wanderprediger war, ist es etwas ungewöhnlich, dass die Wächter Waffen mit sich führen. Aber wahrscheinlich hielt man Jesus auch für einen Freiheitskämpfer und wusste nicht so genau, wie friedlich seine "Truppe" war. Johannes berichtet auch davon, dass Petrus ein Schwert bei sich hatte, mit dem er tatsächlich einen der Wächter verletzt hat.
Doch Jesus will sich nicht mit Waffengewalt verteidigen, aber er ist den Angreifern keineswegs schutzlos ausgeliefert. Er gib sich selbst in ihre Hände, denn wenn er es gewollt hätte, dann hätte er sich ihrem Zugriff entziehen können. Es ist hier nicht Judas, der den Wächtern mit einem Kuss Jesus zeigt. Sie fragen in die Menge, wer von den Anwesenden der gesuchte Jesus von Nazaret ist. Und Jesus antwortet: Ich bin es!
Dieses "Ich bin es" ist nicht nur die Aussage, dass Jesus der Gesuchte ist. Jesus ist Gott, in ihm offenbart sich der Gott Israels, der sich schon Mose am Dornbusch mit den Worten gezeigt hat: "Ich bin der Ich bin da". Dieser ist es, vor dem die Wächter stehen und die Gewalt dieser Aussage lässt sie zurückweichen. Sie haben es nicht mit einem gewöhnlichen Räuber oder Freiheitskämpfer zu tun, sondern vor ihnen steht Gottes Sohn, das spüren sie innerlich, auch wenn sie letztlich nicht an ihn glauben.
Sie hätten keine Macht über ihn, wenn Jesus nicht selbst in ihre Gewalt hätte geben wollen. Nur so geht der Wille des Vaters in Erfüllung, nur so kann Jesus seine Sendung vollenden. Er trinkt den Kelch, den ihm der Vater reicht. In den anderen Evangelien ist uns das Gebet Jesu am Ölberg überliefert, in dem er in seiner Not den Vater darum bittet, dass er den Kelch vorüber gehen lassen möge. Zugleich aber sagt Jesus, dass in allem der Wille des Vaters geschehen möge. Im Johannesevangelium zeigt Jesus keine Angst. Er ist bereit, den Willen des Vaters an sich geschehen zu lassen.
Die Soldaten, ihre Befehlshaber und die Gerichtsdiener der Juden nahmen Jesus fest, fesselten ihn und führten ihn zuerst zu Hannas; er war nämlich der Schwiegervater des Kajaphas, der in jenem Jahr Hoherpriester war. Kajaphas aber war es, der den Juden den Rat gegeben hatte: Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt.
Simon Petrus und ein anderer Jünger folgten Jesus. Dieser Jünger war mit dem Hohenpriester bekannt und ging mit Jesus in den Hof des hohepriesterlichen Palastes. Petrus aber blieb draußen am Tor stehen. Da kam der andere Jünger, der Bekannte des Hohenpriesters, heraus; er sprach mit der Pförtnerin und führte Petrus hinein. Da sagte die Pförtnerin zu Petrus: Bist du nicht auch einer von den Jüngern dieses Menschen? Er antwortete: Nein. Die Diener und die Knechte hatten sich ein Kohlenfeuer angezündet und standen dabei, um sich zu wärmen; denn es war kalt. Auch Petrus stand bei ihnen und wärmte sich.
Der Hohepriester befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. Jesus antwortete ihm: Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im Geheimen gesprochen. Warum fragst du mich? Frag doch die, die mich gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe; sie wissen, was ich geredet habe. Auf diese Antwort hin schlug einer von den Knechten, der dabeistand, Jesus ins Gesicht und sagte: Redest du so mit dem Hohenpriester? Jesus entgegnete ihm: Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich? Danach schickte ihn Hannas gefesselt zum Hohenpriester Kajaphas.
Simon Petrus aber stand (am Feuer) und wärmte sich. Sie sagten zu ihm: Bist nicht auch du einer von seinen Jüngern? Er leugnete und sagte: Nein. Einer von den Dienern des Hohenpriesters, ein Verwandter dessen, dem Petrus das Ohr abgehauen hatte, sagte: Habe ich dich nicht im Garten bei ihm gesehen? Wieder leugnete Petrus und gleich darauf krähte ein Hahn. (Joh 18,12-27)
Jesus wird vor den Hohenpriester geführt und verhört. Heimlich ist Petrus dem Trupp gefolgt, der Jesus gefangen genommen hat. Zusammen mit einem anderen Jünger, der Zugang zum Palast des Hohenpriesters hatte - wer genau dieser andere Jünger war, wissen wir nicht - beobachtet Petrus das Verhör Jesu. Während der andere als Jünger Jesu bekannt ist, wissen die Leute im Palast des Hohenpriesters nicht genau, wer Petrus ist. Die vermuten, er könnte ebenso zu den Jüngern Jesu gehören. Doch Petrus streitet das ab und verleugnet Jesus.
Petrus ist feige, Jesus aber zeigt Mut. Er steht vor dem Hohenpriester, dem höchsten Vertreter des jüdischen Glaubens. Doch Jesus steht vor ihm nicht wie ein Gefangener. Er weiß, dass er größer ist als der Hohepriester. Er ist Gottes Sohn. Wenn der Hohepriester etwas über Jesus und seine Lehre wissen will, soll er doch die Leute fragen. Die ganze Stadt weiß, was Jesus geredet hat. Für diese Antwort bekommt Jesus eine Ohrfeige. Doch Jesus bleibt standhaft und legt nach. War es nicht wahr, was er gesagt hat? Warum wird Jesus dafür bestraft, dass er die Wahrheit sagt? Das Thema Wahrheit wird Jesus nochmals vor Pilatus zur Sprache bringen.
Von Kajaphas brachten sie Jesus zum Prätorium; es war früh am Morgen. Sie selbst gingen nicht in das Gebäude hinein, um nicht unrein zu werden, sondern das Paschalamm essen zu können. Deshalb kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte: Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen? Sie antworteten ihm: Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert. Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn doch und richtet ihn nach eurem Gesetz! Die Juden antworteten ihm: Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten. So sollte sich das Wort Jesu erfüllen, mit dem er angedeutet hatte, welchen Tod er sterben werde. (Joh 18,28-32)
Anders als die Synoptiker legt Johannes den Hauptaspekt bei der Verurteilung Jesu auf den Prozess vor Pilatus. Die Juden sind hier machtlos, denn es war ihnen unter römischer Herrschaft nicht erlaubt, selbst die Todesstrafe zu vollstrecken. Genau diese aber war für sie die einzig angemessene Strafe für den Gotteslästerer Jesus von Nazaret. Daher bringen sie Jesus zum römischen Statthalter Pilatus.
Es ist der Tag vor dem Paschafest. Die Juden betreten den Palast des Pilatus nicht, damit sie sich nicht verunreinigen und so von der Feier des Paschafestes ausgeschlossen sind. Während die Synoptiker das Abendmahl Jesu als Paschamahl schildern und Jesus am Tag des Festes hingerichtet wird, erfolgt bei Johannes die Hinrichtung Jesu am Vorabend des Festes. Diese Chronologie erscheint schlüssiger. Jesus stirbt als Opferlamm für die Sünden der Vielen. In seinem Mahl mit den Jüngern hat er vorausgenommen, was in seinem Tod geschieht.
Wenn wir den Verlauf der Verurteilung Jesu näher betrachten, so sehen wir Pilatus hin und her gerissen. Er redet mit Jesus, dann geht er hinaus, kommt wieder zurück. Er will Jesus freilassen, aber die Juden verstehen es, ihn in die Enge zu treiben, dass er keine andere Wahl hat, als Jesus hinrichten zu lassen. Sie stellen Pilatus gegenüber Jesus als Hochverräter dar und wenn Pilatus einen Hochverräter entkommen ließe, würde das ihn in den Augen des Kaisers in Misskredit bringen. Doch auch die Juden glänzen hier nicht gerade, denn der Preis dafür, dass sie Pilatus dazu bringen, Jesus zu verurteilen, ist letztlich ihre Anerkennung der Römischen Herrschaft. Nur wenn sie sich Pilatus gegenüber als treue Anhänger Roms ausgeben, macht ihre Anklage Jesu als Hochverräter in den Augen des Pilatus wirklich Sinn.
Allein Jesus bleibt in all dem Hin- und Her standhaft. Er bleibt fest stehen, als Pilatus ihn verhört, verliert nicht das Gesicht, als er dem Volk zur Schau gestellt wird. Er findet die richtigen Worte, lässt sich nicht auf sinnlose Diskussionen ein und schweigt schließlich, als er merkt, dass alle Worte hier sinnlos sind.