Es ist wie der Tau des Hermon, der niederfällt auf die Berge des Zion. Denn dorthin hat der Herr den Segen entboten, Leben bis in die Ewigkeit. (Ps 133,3)
Diese kultische Dimension erkennen wir auch im letzten Vers des Psalms und es haben sich zu allen Zeiten die Ausleger gefragt, wie der Tau des im Norden Israels gelegenen Hermon auf den Zionsberg niederfallen kann. Eine Erklärung besteht darin, dass hier ursprünglich von dem am Fuße des Hermon gelegenen Berg Ijjon die Rede war. Somit handelt es sich bei dem Psalm um ein Lied aus dem Nordreich Israel, dass nach dessen Zerstörung wie viele andere religiöse Texte in den Süden nach Jerusalem gerettet wurde, und dort von den Priestern am Tempel neu auf Jerusalem hin ausgerichtet wurde, der Stadt, von der aus ihrer Sicht allein der Segen Gottes ausgeht.
Wieder kann uns die Deutung von der Wallfahrt her ein tieferes Verständnis der Stelle liefern. Wir können uns vorstellen, wie die Pilger erschöpft durch die Hitze des Heiligen Landes ziehen. In der Ferne sehen sie den schneebedeckten Hermon. Sie denken an den erfrischenden Tau, der von seinen kühlen Höhen die sengende Hitze der Ebene mildern kann. Doch nicht der Hermon ist das Ziel der Pilger, sondern der Berg Zion, die Stadt Jerusalem, in der Gottes Tempel steht. Wie vom Hermon erfrischender Tau herab kommt, so kommt vom Zion göttlicher Segen auf das ganze Volk.
Auch wenn Gottes Nähe überall erfahrbar ist, gibt es doch besondere Orte, an denen seine Kraft intensiver spürbar werden kann. Wir kennen solche Wallfahrtsorte, die meist an den Gräbern bedeutender Heiliger errichtet wurden. Von Menschen, die in ganz besonderer Weise in der Nähe Gottes gelebt haben, wird Gottes Kraft und Segen an andere weiter gegeben. An solchen Orten fließt das Salböl Gottes verschwenderisch zu allen Zeiten.
Und doch gilt das Wort Jesu: "Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen." Geschwisterliche Gemeinschaft ist überall möglich. Gott ist nicht gebunden an den Tempel oder an ein Gotteshaus. Gott kommt überall in die Mitte der Menschen, wo mindestens zwei in seinem Namen versammelt sind. Gott stiftet Segen unter den Menschen und dann wird das menschliche Miteinander belebend wie kostbares Salböl und erfrischend wie der Tau.